Lateinamerika im Aufbruch

Günter Buhlke

Der Außenminister Boliviens, David Choquehuanca, hat Ende November 2012 die Berliner Öffentlichkeit informiert, dass der Staatspräsident der Plurinationalen Republik Boliviens die spirituellen Oberhäupter der indigenen Welt zu einem Treffen vom 20.12. bis 22.12.2012 auf die „Isla de Sol“ im Titicacasee eingeladen hat.

Im Beisein der „Pacha Mama“ (Mutter Erde) wollen sie die Sonnenwende und den Beginn der „Neuen Kultur des Lebens nach Ablauf des Mayakalenders“ willkommen heißen.

Was könnte der Präsident unter einer „Neuen Kultur des Lebens“ verstehen? Bereits in der Nacht seiner Wahl als Staatspräsident hatte er die gesellschaftlichen Hauptziele seiner Regierung verkündet. So unter anderem mit dem Ausspruch: „Wir können nicht nochmals 500 Jahre warten.“ Er betrachtet die rund 300 Jahre der spanischen Kolonialzeit und die zirka 200 Jahre der nachfolgenden Periode des Neokolonialismus der westlicher Industrieländer als verlorene Jahre. Zeiten, die nicht genutzt werden konnten zur Erlangung von Gerechtigkeiten, für bessere Lebensverhältnisse (Buen Vivir/ spanisch oder suma qamana/ in der Sprache der Aymara), sowie zur Achtung der Natur und ihrer Gesetze.

Die koloniale Unterwerfung der lateinamerikanischen Völker hat eine gewaltsame Unterbrechung ihrer originären Kultur- und Wissenschaftswelt herbei geführt. Eine hoffnungsvolle Entwicklung für die Regionen der Neuen Welt und vielleicht für die ganze Welt wurde abgebrochen.

Was haben die Spanier in Lateinamerika vor?

Hieroglyphen- und Bilderschriften der Maya, Zapoteken, Mixteken, Azteken und farbige Knotenschnüren (Quipus) der Chimu, Inka, Quetschua, Aymara, Mapuche u.a. Systeme der Kommunikation, der Nachrichtenübermittlung und für Verwaltungsakte. Zur Berechnung großer Zahlenreihen haben die Maya die Zahl „0“ neben den Chinesen entdeckt. So konnten die Umlaufbahnen der Venus und des Mars wissenschaftlich berechnet werden. Sternbeobachtungen wurden den langen Zyklen der Naturabläufen in Übereinstimmung gebracht. Kilometer lange Wege- und Wassersysteme haben die Völker angelegt und so die Versorgung in Städten mit bis zu 200000 Einwohnern (Tenochtitlán) mit Nahrungsmitteln und Wasser sichergestellt. Die Alte Welt wurde Nutznießer agrarischer Züchtungen der lateinamerikanischen Völker, wie Kartoffeln, Tomaten, Tabak, Kürbisse, Kakao, Vanille, Mais, Quinoa und weiterer 30 endemischer Pflanzen. Das alles sind Kulturleistungen der Indìgenas der Neuen Welt, die nur wenige Völkerschaften der Erde erreicht haben. Die Poesie, die Musik und das bildnerische Schaffen hatten zur Zeit der Eroberung einen hohen Stand. Eine lebendige und einmalige Kultur wurde fasst vollständig vernichtet. Überlebt haben die Volkssprachen in Nord,- Mittel,- und Südamerika und die steinernen Zeugen ihrer Kunstwerke, die sie mit einfachen Werkzeugen schaffen konnten. Die Arbeitsteilung in der Landwirtschaft und im Handwerk schuf eine Überschusswirtschaft mit einer Produktivität in der indígenen Gesellschaft, die die Beschäftigung von Gruppen der Gesellschaft mit der Kunst, der Spiritualität und der Wissenschaft ermöglichte. Das alles, ohne das mechanische Prinzip des Rades und des Pfluges zu kennen oder Tiere als Zugkräfte einzusetzen. Alle Lasten wurden von Menschen bewegt, was ein Blick auf die Schichtung ihrer Gesellschaft zu lässt.

Das 16.,17., 18. und beginnende 19. Jahrhundert waren in Lateinamerika geprägt von opferreichen Kämpfen gegen die Kolonialverwaltungen. Die politische Unabhängigkeit von den Kolonialmächten war schließlich der krönende Erfolg. Im 20. Jahrhundert erschütterten Rebellionen und Aufstände in fasst allen 24 Staaten der Region. Weltweite Beachtung fanden die Revolutionen und Kämpfe in Mexiko (1911), Guatemala (1952), Kuba (1959), Chile (1970), Nikaragua (1979), Kolumbien (seit 1963). Ziele des Aufbegehrens waren die Selbstbestimmung und die Einschränkung der Macht westlicher transnationaler Konzerne und des Nordens, der mit Militärdiktaturen als Erfüllungsgehilfen die Entwicklungen aufhalten sollten. Im 20. Jahrhundert fanden die auf Gerechtigkeit drängenden politischen Kräfte Unterstützer in der 2. Welt und in den Vertretern der katholischen Befreiungstheologie. Die interpretierten die tragische Lebenssituation nicht nur aus der Bibel, sondern auch aus dem „Buch des Lebens“. Das brachte einigen der Theologen Verbote des Papstes ein. (z.B. Frei Betto und Fernando Boff/Brasilien, Ernesto Cardenal/Nikaragua, später Fernando Lugo/Paraguay. Bischof Romero/El Salvador und andere Geistliche fanden in ihrer Rebellion gegenüber der Ungerechtigkeit den Tod).

Im 21. Jahrhundert wurden die Bewegungen des Widerstandes fortgesetzt und es zeichnet sich in Lateinamerika eine Periode der Rückbesinnung auf die alten Werte ab. Begonnen hat die weitere Suche nach Alternativen zum westlichen neoliberalen Gesellschaftsmodell und die praktische Erprobung in den Ländern des ALBA Verbundes. Es ist die Suche nach einer neuen Kultur des Lebens, mit dem Konzept eines auskömmlichen Lebens (Buen Vivir) oder des Sozialismus im 21. Jahrhundert, mit einer anderen Ausgestaltung der Demokratie. Angemahnt wird ein neues Verhältnis der Menschen und der Gesellschaft zur Natur, mit ihren komplexen Systemen und Gesetzen der Physik, Chemie und Biologie. Die fortschrittlichen Politiker Lateinamerikas knüpfen bewusst an das aufklärerische Verständnis von Jan-Jaques Rousseau, zu den Rechten der Natur und an Emanuel Kants, Aufforderung an, „sich seines Verstandes zu bedienen“. Die lateinamerikanische Politik hat das rein wissenschaftliche Feld der theoretischen Erörterung der früheren und späteren (Hegel, Marx) Aufklärer längst verlassen. Die geltenden Verfassungen Boliviens (und auch Ekuadors, Venezuelas, Kubas, Mexikos) und ihre Wirtschaftspolitik weisen diese Richtung. Eine neue Logik des Wirtschaftswachstums unter Beachtung der Gesetze der Natur wird gesucht und auf Umweltkonferenzen in Bolivien u.a. lateinamerikanischen Ländern vorgeschlagen. Die moderne Tragik ist an den ergebnislosen Konferenz von Kopenhagen und jüngst in Doha abzulesen.

Evo Morales und andere lateinamerikanische Politiker stellen Zusammenhänge zwischen der objektiven Lage Lateinamerikas und dem großen bis heute aktuellen Themas der Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft her.

Die andere Gesellschaftslogik Lateinamerikas bereichert unsere „Eine Welt“. Hoffen wir, dass die vor uns stehende Zeit die Erfüllung der Millenniumsziele der UNO und damit Gerechtigkeit bringt und ohne verheerende Kriege verläuft. Die Natur kennt und braucht keine Kriege zu ihrer Entwicklung; auch nicht die Familien der mittleren und unteren Etage unseres gemeinsamen Hauses.